Familien & Geschichte(n)

 Waren im 18. Jahrhundert zur Erschließung des Bergbaus noch Fachkräfte aus dem Harz und dem Erzgebirge angesprochen worden, so standen in der zweiten Welle Mitte des 19. Jahrhunderts schon mehr die anlernbaren Kräfte im Vordergrund. Bergfremde – also die im Bergbau ungeübten –, die in ihrer Heimat keinen Lebensunterhalt fanden, ländlicher Handwerker, Kötter, Heuerlinge und nichterbende Bauernsöhne aus dem Hessischen, dem Münsterland und Westfalen. Im letzten Drittel des Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg, setzte dann die dritte Welle ein. Ihr Ausgangspunkt lag vornehmlich im Osten, besonders in den früheren preußischen Ostprovinzen, Schlesien, Posen, Ost- und Westpreußen. hier wurden vor allem aus dem Posener Raum kommend, Bergarbeiter verpflichtet, aber ebenso auch weiterhin einfache Landarbeiter.

 Der Bedarf an Arbeitskräften führte auch bei den Arbeitgebern zu besonderen Entwicklungen. Um sich der richtigen Arbeiter zu versichern und sie andererseits auch in Abhängigkeit zu halten, baute man Wohnungen. Viele ausländische Mitarbeiter hielten sich an ihre Tradition, Sprache und Kultur und suchten die Nähe zu anderen, gleicher Herkunft. Man wollte in die gleichen Stadtteile ziehen, traf sich im gleichen Verein[1]. Thyssen baute auf dem bereits zu Beginn der Industrialisierung erworbenen Land zunächst primitive, einstöckige Häuser mit engen Fenstern, ab 1900 zwei- bis vierstöckige Mietskasernen, ua. in der Koloniestrasse (Duisburg Zentrum) oder in der Marienstrasse (Marxlohe). Angeordnet in quadratischen Blocks. Die alte Koloniestrasse war noch bis 1911/12 nicht kanalisiert, Abwässer und Fäkalien liefen ungehindert durch die Straßen. Wohnenswert in unserem Sinne war das nicht. Zeitgenossen schildern das Wohnerlebnis so,

  rußgeschwärzte, jeglicher architektonischer Feinheit oder Lebhaftigkeit bar, melancholisch stimmende Mietskasernen…Im Sonnenlicht erscheint dieser Riesensteinblock fast wie eine Totenstadt, in der der unbarmherzige Lichtstrahl nur auf Elend trifft“…

 Und für Bruckhausen führt man aus,

 „Ähnlich sah es in Bruckhausen aus, nur mit dem Unterschied, dass einmal die Mietskasernen hier nicht nur von Thyssen, sondern auch von Nicht-Industriellen errichtet wurden, und das sie zum anderen unmittelbar im Schatten der Thyssen Hütte lagen und daher Bewohner „sehr unter Lärm der Fabrikanlagen und der Rauch-, Gas- und Staubentwicklung zu leiden“ hatten.[2]

 Noch in den 60er Jahren war es in der Emscherstrasse nicht empfehlenswert die weiße Wäsche auf der Leine zu lassen, wenn die Thomasbirne auf der Meidricher Hütte[3] abblies. Überhaupt: weiße Hemden waren spätestens nach 1-2 Stunden am Kragen dreckig und die gelben Wolken hingen noch in den 70er Jahren über dem Ruhrgebiet. Aber immerhin besser als in Leverkusen, dort halfen selbst die Regenschirme nicht gegen den feinen Niederschlag der bei schlechter Witterungslage niedergingen. Feine Löcher blieben im Regenschirm zurück und Regenschutz war ausgeschlossen. Aber auch Bayer hat sich gebessert und heutzutage ist eine wirkliche Belastung nur noch im Fall eines Unfalls problematisch.

 

Aber nicht alle Koloniesiedlungen[4] waren so trist.  Anders als Thyssen baute die Gewerkschaft[5] Neumühl unter der Ägide der Haniels[6] freundlicher, wenn auch die Absicht auf das gleiche gerichtet war. Mitarbeiterbindung zum kleinen Preis. Ihre Werkswohnungen verfügten oft über Vorgärten, dahinter liegende ein- oder zweistöckige kleinere Häuser, eingeteilt in eine vordere und eine hintere Hälfte mit eigenen Eingängen und mit einem kleinen Garten für die Familie. Wie oben beschrieben.  Auch die Gesamtgrundrisse der Stadtanlagen stellten nicht nur wie bei Thyssen als ein ödes Schachbrettmuster dar.

 

 In besseren Kolonievierteln wie  Neumühl, das zwischen Schacht 3 und Bahnhof Hamborn-Neumühl lag, waren die Straßen mit Rundungen und Knicken angelegt. Selbst die Joachimstrasse wies eine solche Gestaltung auf.[7] Als Begründung für die Thyssensche Bauausführung (die einen weitaus geringeren Flächenverbrauch verlangte, während die Zeche Neumühl mit weitaus geringerer Belegschaft einen Flächenverbrauch von 130 ha hatte, hatte Thysssen mit erheblich mehr Belegschaft nur 125 Ha verbrauchte) gab die Gewerkschaft Großer Kaiser (die später vollständig in Thyssen aufging) an, dies resultiere aus „..dem Platzmangel und der begrenzt zur Verfügung stehender Fläche..“.

 

Das aber war wohl offensichtlich die Unwahrheit, denn 1911 hatte die Gewerkschaft Deutscher Kaiser (Thyssen) noch nicht einmal die Hälfte ihres Hamborner Bodenbesitzes (knapp 50 % des Stadtgebietes) mit Fabrikanlagen und Wohngebäuden bebaut.

 

Wahrscheinlicher ist die Vermutung eines anderen Autors, der annimmt, dass der Deutsche Kaiser zeitlich gar nicht in der Lage gewesen ist, für die Vielzahl neuer Mitarbeiter entsprechenden Wohnraum zu produzieren.[8] Da Thyssen während dieser Jahre viel mehr Arbeiter nach Hamborn holte[9] als sie selber einstellten (die Concordia und die Gute Hoffnungs Hütte,GHH, in Oberhausen machten das genauso[10]) führte das zu einem enormen Druck auf den Wohnungsmarkt und die Dichte der Bewohnung. Im deutschen Steigerverband analysierte man das 1911 – positiv – dahingehend, dass dadurch das Lohnniveau gedrückt werden konnte. Das nennt man die Idee des Manchester Kapitalismus umsetzen.

 

Auch für einen Freund der Marktwirtschaft eine eher zynische Bemerkung, insbesondere dann, wenn man die weiteren Umstände der Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse betrachtete. Der soziale Druck war enorm.

 

Die Zuwanderer kamen aus armen bis ärmsten Verhältnissen, hatten in ihrer Heimat (wahrscheinlich) kaum ihr Auskommen und nahmen jede Gelegenheit war zumindest über die Runden zu kommen. Man verhandelte in einer Vielzahl von Fällen nicht darüber das Leben angenehm zu gestalten, sondern über die Frage wie man überlebte. Dazu gehörte eine Bleibe und ein Auskommen. Hatte man ein Dach über dem Kopf und irgendwie Platz, so verbesserte man seine Situation dadurch dass man Dritten Unterkunft und Kost gewährte. Das Ledigenheim der Zeche Neumühl, die sogenannte Menage,  war schon von Anfang an überbelegt. In dieser Zeit entwickelte sich als Konsequenz das Kostgängerwesen. Junge unverheiratete Arbeiter, die keine Aufnahme in Ledigenheimen der Betrieb fanden oder solche verheirateten Arbeitnehmer, die ihre Familie vorläufig noch in der Heimat gelassen hatten, suchten Aufnahme bei anderen Arbeiterfamilien, die sich dadurch ein zusätzliches Einkommen verschafften. Da war es gut, wenn man jemanden kannte, der schon eine Zeit da war. Teilweise waren die engen Arbeitwohnungen katastrophal überbelegt, Zimmer, die nur von einer Person genutzt wurden gab es so gut wie nicht.

 

Die Zechen riefen und alle kamen, fast alle. Von den rund 5500 Stammarbeitern rund 3000 aus Deutschland, 1300 aus des östlichen Provinzen mit polnisch als Muttersprache, 1000 Österreicher und 300 Holländer, Italiener und andere. Wenn solche Menschenmengen zusammenkommen, dann sind da auch viel dabei, die aus irgend einem Grund untertauchen wollen und Neumühl gab jedem Arbeit. Kolportiert wird, dass die Zeche mehr Zuchthäusler beschäftigte als in einem großen Zuchthaus untergebracht waren. Und auch der soziale Umgang war durch dieses Völkergemisch geprägt. Einer der damaligen Kneipen, Ostrop, betrug monatlich mehr als 300 Hektoliter Schnaps. Neumühl, wie Georg Werner schreibt, war Wild West.[11] Die Steiger hatten jeder einen Waffenschein und trugen einen Revolver mit sich und Mord und Totschlag war kein ungewöhnliches Delikt. In einem – von vielen – Beispielen aus Artikel der Lokalpresse von Juli – Oktober 1909 heißt es,

 Lohntagsfolgen

 

Am letzten Abschlagstage der Zeche Neumühl ging es wieder recht wüst zu. Den ganzen Tag sah man betrunkene Bergleute die Straße entlang walzen. Bis spät in die Nacht hinein wurde überaus wüstes Singen und Lärmen vernommen. Auf verschiedenen Stellen kam es zu kleineren Raufereien.

 

Gefährliche Körperverletzung

 "In der vorvergangenen Nacht um 2 Uhr fand an der Ecke Holtener und Fiskusstrasse zwischen einer Anzahl sich begegnender Bergleute eine Schlägerei statt, wobei auch mit dem Messer gearbeitet wurde. Der Bergmann Stanislaus M., Alfredstrasse 3a wohnenden, erhielt 6 Messerstiche, teils in den Kopf und teils in die Brust, so das er schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden musste. Zwei der Täter, Bergleute, wurden verhaftet. "

 Der Hamborner Generalanzeiger dieser Jahre ist voll von diesen Begebenheiten.

 Bevor man allerdings einen Arbeitsplatz bekam unterzog man sich regelmäßig einigen gesundheitlichen Behandlungen. Fast immer kam es zu einer Wurmkur, weil die Zechen lange Zeit keine fremden Bergleute anfahren lies, der sich nicht vorher einer solchen Wurmkur unterzogen hatte. Die ägyptische Wurmkrankheit ist wahrscheinlich von ungarischen oder kroatischen Gesteinarbeitern eingeschleppt worden, Sie wurde schon 1885 auf der Zeche Langenbrahm(Essen) festgestellt. 1896 wurden auf 16 Zechen 107 Krankheitsfälle festgestellt. Im Jahre 1902 war die Zahl auf 1353 angeschwollen, wurmbehaftet waren rund 25.000 Bergleute. Begünstigt wurde die Verbreitung durch die hygienischen Verhältnisse. So badete man anfänglich noch in einem gemeinsamen großen Bassin, nicht in den später angeschafften Duschen, was die Verteilung der Larven natürlich begünstigte. Einmal abgesehen davon, dass die Reinigung ins solchen „großen Badewannen“ ohne ausreichenden Wasserzufluss höchst unappetitlich machte[12].

 Hatte man einen Arbeitsplatz und eine Wohnmöglichkeit, vielleicht auch mit der ganzen Familie einen ganzen Hausteil bekommen, war man in einer extremen Abhängigkeit. Die Kündigung, mit einer Frist von 14 Tagen, des Arbeitsplatzes bedeutete fast immer – da der Arbeitgeber auch der Vermieter war – das gleichzeitig der Wohnplatz verloren ging und viele Umzüge in der Zeit werden auch mit dem Wechsel des Arbeitsplatzes (oder seines Verlustes) in Zusammenhang gestanden haben. Die Fluktuation war hoch, ein Arbeits- und Kündigungsschutz eigentlich unbekannt. Während zwischen 1910/1912 ein Zuzug von 260.000 Mann erfolgte, verließen das Ruhrgebiet 230.000 und das bei einer Stammbelegschaft in der Industrie von 360.000[13]. Verbesserungen des Einkommens fanden fast ausschließlich durch den Wechsel des Arbeitsplatzes, damit häufig mit dem Wechsel des Wohnortes statt. Eine erhebliche Belastung. Und kam es zum Streik, so bedeutete die Streiknahme automatisch die Kündigung durch den Arbeitgeber und damit den Verlust des Wohnrechtes. Eine äußerst schwierige Situation.[14]



[1] In unserer eigenen Familie waren Lorenz Jaensch (wahrscheinlich auch Franz Domalski) Mitglied im polnischen Verein; beide waren keine WK I Teilnehmer und im Deutsch-Französischen Krieg noch zu klein, so das sie das Glück hatten nie an der Front gewesen zu sein

 

[2] betrifft vor allem Obermarxloh, nach : Hamborn Geschichte und Geschichten S. 114/115

 

[3] Heute eingebunden in den Landschaftspark Nord (vgl. Photo)

 

[4] Hier taucht er auch wieder auf der Begriff den meine Mutter für die Wohnviertel verwendete, hier mag auch zum Teil begründet sein, das er nicht positiv belegt war, sich die Frage was denn die Kolonie als Soziales Gefüge war tatsächlich nur im Zusammenhang mit der Zeit, den dort lebenden Personen und den Umstände und Voraussetzungen der Betrachtung erschließt.

 

 [5] Der Begriff der Gewerkschaft meint hier den Gewerk (=Gesellschafter) Zusammenschluss, nicht die heute alleine darunter verstandene Arbeitnehmervertretung in der Tariforganisation zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft

 

[6] Das Bergwerkseigentum für Neumühl/Schmidthorst war an Daniel Morian verliehen worden. Er war Repräsentant der Gewerken der Zeche Neumühl und besaß 250 Kuxe (Anteilsscheine), die insgesamt ausgegeben waren. Als Daniel Morian starb, gingen seine Kuxe in den Besitz seiner Frau und seines Sohnes über. 500 Kuxe gehörten Mitgliedern der Familie Haniel. Die Kuxe waren keine Anteilsscheine wie z.B. Aktien oder Beteiligungen an einer modernen Gesellschaft wie einer GmbH oder AG, sondern eine zur weiteren Einlage verpflichtende Beteiligung. Die Gesellschaft hatte ein zusätzliches Forderungsrecht gegen ihre Gesellschafter. Die aufwendige, teuere Erschließung wurde durch eine sogenannte Zubuße erbracht. 1890 berief Franz Haniel eine Gewerkenversammlung ein, um anstelle des verstorbenen Daniel Morian einen anderen Repräsentanten und Grubenvorstand von den Gewerken wählen zu lassen. Grillo, Hasenkamp, Schneider und Sölling gehörten neben Morians und Haniels die Anteile. Hugo Haniel wurde Grubenvorstand und bis 1893 hatte die Familie Haniel sämtliche Kuxe in ihren Besitz gebracht. Bis 1894 ist der erste Schacht abgeteuft (Schacht I) und eine Investition von rund 1.000.000 Mark (das Jahreseinkommen eines Arbeiters beträgt rund 1500 Mark) investiert

 

[7] K. Freundlieb schreibt in seiner Dissertation 1928 zur „Allgemeinen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt Hamborn am Rhein“, S. 78 [zitiert nach Schwieren, Neumühl, S. 165]: Es sei vorausgeschickt, das Neumühl, ähnlich wie Obermarxlohe, stark mit Kolonien bebaut ist. Jedoch unterscheiden sich beide Stadtteile insofern gewaltig, als die Neumühler Kolonien, selbst die weniger guten in dem nach Buschhausen gelegenen Viertel, das von der Lehrer-, Dorotheen-, Halden- und Buschhausenerstrasse umschlossen wird gemessen an den Obermarxloher „Wolkenkratzer“ eher kleine Villen darstellen., denen man ihren Bestimmungszweck kaum noch ansieht. Die Kolonien in der Umgebung des Bergmannsplatzes und noch mehr die Kolonien zwischen Falken-, Sophien-, Specht- und Gartenstrasse würden besser statt mit dem übel beleumundetem Begriff Kolonie mit dem Wort Mustersiedlung bezeichnet. Wie in Bruckhausen das Wohlergehen aller Bewohner von den Thyssenwerken abhing, beruht es hier auf der Zeche Neumühl. Mit Ausnahme der Holtener- und Lehrerstrasse, an denen sich noch Privatleute haben halten können, ist fast der ganze Stadtteil im Eigentum der Gewerkschaft Neumühl.

 

[8] A.a.O. S. 118 (ohne klaren Zitathinweis)

 

[9] Das hängt sehr wahrscheinlich auch mit der Methode der Akquirierung zusammen, wenn die Einstellung erst vor Ort erfolgt, die Anreisenden aber in der Regel eine erhebliche Strecke, oft auch schon mit der ganzen Familie hinter sich bringen mussten und eine Rückreise schon aus finanziellen Gründen nicht immer möglich war

 

[10] A.a.o. S. 118

 

[11] Georg Werner, Ein Kumpel S. 123 ff.

 

[12] Vgl. Schwieren a.a.O. S. 202ff.

 

[13] A.a.o. S. 120

 

[14] Vgl. dazu im Einzelnen auch: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland / Li Fischer-Eckert Nachdr. d. Ausg.] Hagen in Westf., Stracke, 19l3. - Duisburg : Braun, 1986 Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1911/12

 

 

 

(C) Uwe Gesper 2013